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Warum wir Kinder vor den falschen Dingen schützen

von Simon Berriman

Zusammenfassung von Sieglinde Ivo


Drei Viertel aller Zwölfjährigen sind mit ihrem Körper unzufrieden. Acht von zehn junge Erwachsene schämen sich für ihr Aussehen. Fast die Hälfte hat sich deswegen sozial zurückgezogen, treibt zwanghaft Sport oder verletzt sich selbst.

Während diese Krise wächst, empört sich die Gesellschaft über etwas ganz anderes – darüber, dass Kinder in harmlosen, familiären Kontexten nackte Körper sehen könnten.

Der Widerspruch unserer Zeit

Wir warnen Kinder vor Nacktheit, während sie gleichzeitig tagtäglich von Social-Media-Algorithmen mit sexualisierten, bearbeiteten Körperbildern bombardiert werden. Studien zeigen, dass 40% der Jugendlichen unter psychischen Problemen leiden, die direkt mit Online-Body-Shaming zusammenhängen. Essstörungen, Selbstzweifel und Angststörungen steigen rapide.

Doch anstatt sich dieser realen Bedrohung zu stellen, wollen viele Eltern und Politiker verhindern, dass Kinder in FKK-Vereinen, Saunen oder Naturistenparks normale, unretuschierte Körper sehen. In Großbritannien forderten Kampagnen sogar, dass solche Orte nur für Erwachsene zugänglich sein dürfen.

Das Paradoxe: Kriminalstatistiken zeigen, dass sexuelle übergriffe fast ausschließlich im familiären Umfeld oder in Vertrauensbeziehungen stattfinden – nicht bei beaufsichtigten FKK-Veranstaltungen.

Was die Forschung wirklich sagt

Seit Jahrzehnten belegen psychologische Studien das Gegenteil der verbreiteten Angst: Kinder, die mit nicht-sexueller Nacktheit in Familie oder Gemeinschaft aufwachsen, entwickeln ein gesünderes Verhältnis zu ihrem Körper.

Eine aktuelle Studie von Professor Keon West (Goldsmiths University London) fand heraus, dass Naturismus in der Kindheit mit höherem Selbstwertgefühl, weniger Körperangst und mehr Zufriedenheit verbunden ist. ähnliche Ergebnisse zeigen Untersuchungen aus den USA und Skandinavien – nirgendwo fanden Forscher schädliche Effekte.

Der Grund ist einfach: Wer früh erlebt, dass Körper unterschiedlich, normal und nichts Beschämendes sind, ist später weniger anfällig für Schönheitsdruck oder digitale Vergleichskultur.

Ein Beispiel aus dem echten Leben

Meine Frau Helen hätte das früher nie geglaubt. Sie wuchs katholisch auf und wurde als Jugendliche Opfer sexueller Gewalt. Für sie war Nacktheit lange mit Scham verknüpft. Als wir uns kennenlernten, fand sie den Gedanken unerträglich, dass ihre achtjährige Tochter nackte Erwachsene sehen könnte.

Doch als sie während des Lockdowns 2020 zufällig an einer Naturistenveranstaltung teilnahm, änderte sich alles: „Niemand lachte, niemand starrte – nach wenigen Minuten sah ich keine nackten Menschen mehr, sondern einfach Menschen”, erzählte sie später.

„Nacktheit ist ein großer Gleichmacher”

Diese Erfahrung befreite sie von jahrzehntelanger Scham. Heute engagiert sich Helen öffentlich für Körperakzeptanz und moderiert den Podcast Women in Focus. Ihr Wandel zeigt, wie tief gesellschaftliche Angst vor Nacktheit sitzt – und wie unbegründet sie ist.

Auch meine Tochter Lizzie, die von klein auf mit offener Körperkultur aufwuchs, bestätigt, was Studien längst belegen. Sie sagt: „Ich habe gelernt, dass Körper einfach verschieden sind. Das gibt mir Gelassenheit gegenüber dem Druck in sozialen Medien.”

Statt sich an unrealistischen Idealen zu messen, lebt sie selbstbewusst und frei von Scham. Das ist die psychologische Widerstandskraft, die entsteht, wenn Kinder lernen, dass ihr Körper nichts ist, wofür sie sich verstecken müssen.

Die moralische Panik

Der Konflikt zwischen Fakten und Emotionen folgt einem altbekannten Muster: der moralischen Panik. Sie entsteht, wenn gesellschaftliche ängste überhandnehmen und die Wahrnehmung verzerren. In diesem Fall richtet sich die Panik gegen sichtbare Nacktheit – während wir die eigentlichen Risiken, wie algorithmisch verstärkte Körpervergleiche, weitgehend ignorieren.

Wir haben Kinder so sehr vor „falscher Nacktheit” schützen wollen, dass wir ihnen unbewusst Scham beigebracht haben. Schon Kleinkinder lernen: Der Körper ist etwas, das man verstecken muss. Gleichzeitig sind sie von sexualisierten Bildern umgeben – ein Widerspruch, der Körperdysmorphie und Unsicherheit.

Verkürzte Fassung. Der vollständige Artikel ist auf der Webseite der INF/FNI unter Blogs zu finden ➤ https://blog.inf-fni.org/de/warum-wir-kinder-vor-den-falschen-dingen-schuetzen/

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Aktualisierungen:
02.12.2025 → Seite erstellt

Text:
© Simon Berriman