Chrissy
Wenn Chrissy die Bluse öffnet, geht die Sonne auf. Ihre Brüste funkeln und blitzen. Sie hat sich kleine silberne Stifte durch die Brustwarzen stecken lassen. Zeitweilig trägt sie auch Ringe.
„Ich erlebe so meinen Körper viel intensiver,” sagt sie.
Doch damit nicht genug. Ihr Rücken, ihre Arme und auch ihre Oberschenkel sind mit bunten Bildern geschmückt.
„Tätowieren macht süchtig,” sagt ein Metallarbeiter der Gruppe Eisenvater. „Der sanfte Schmerz, der beim Abheilen der zerstoßenen Haut entsteht, reizt die Sinne und läßt Dich nie wieder los. Der Tätowierte spürt und erlebt seinen Körper völlig neu. Du weißt, daß Du bist. Also ist tätowieren eine Philosophie.”
Lebensphilosophie allemal.
In den letzten Jahren hat die Tattoo-Kunst einen gewaltigen Aufschwung genommen. Waren noch vor 20 Jahren Tattoos Matrosen, Soldaten und Knackies vorbehalten, so hat sich heute die Lage völlig verändert. Seit Cher und andere Filmgrößen sich zum Tattoo bekennen, ist auch der Anteil der Frauen aller Gesellschaftsschichten gestiegen.
Tattoo-Studos mit hochmodernem, sterilem Werkzeug sid selbstverständlich geworden. Auch die technische und künstlerische Qualität kann sich sehen lassen.
Chrissy fährt alle paar Wochen 500 km quer durch Deutschland um sich den Rücken bearbeiten zu lassen. Das kostet nicht nur viel Zeit und Geld, sie ist auch der Laune des Meisters ausgeliefert. Hat er keine Inspiration mehr, fährt die kerzengerade hinter dem Lenkrad sitzed, wieder nach Hause. Nicht mehr der anonyme Hinterhof-Tätowierer ist gefragt, sondern der Künstler, der seine Weke auch signiert.
Leider ist der Anteil der Tätowierten, die einen Ganzkörper-Konzept haben, sehr gering. Hier bilden nämich Körper und Tattoo eine Einheit. Inhalt, Form und Farbe korrespondieren mit den Körperformen. Ein Gesamtkunstwerk entsteht.
Wolfram Freutel im März 1994
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