Essays

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In der Freikörperkultur gesehen werden wollen
ist nicht gleichzusetzen mit sich zeigen wollen.


Ein philosophischer Essay zur Freikörperkultur

von Uli Uschberg

Stellen wir uns folgendes Bild vor: eine Person, die am gesamten Körper, außer an Po und Geschlechtsteil(en), etwas anhat. Diese Vorstellung wirkt sicherlich seltsam auf uns, da wir es nicht gewohnt sind, unsere Mitmenschen derart zu Gesicht zu bekommen. Und doch karikiert dieses Bild unsere Gesellschaft bzw. unsere Kultur im Umgang mit der Nacktheit(1). Denn ist es zunächst einmal nicht so, dass in unserer Kultur Menschen in Badehose oder Bikini nichts Aufsehenerregendes sind? Könnte irgendwer bestreiten, dass Badebekleidung jedem Menschen, ganz gleich welchen Aussehens, mehr oder weniger zugestanden wird? Hat denn beispielsweise im Schwimmbad irgendwer ernsthafte Probleme, dort weniger ansehnliche Menschen zu sehen, die unserem Schönheitsideal weniger oder nicht entsprechen? - Würde man aber dort jemanden von den Besuchern, die es nicht gewohnt sind, gänzlich unbekleidet zu sein, darauf ansprechen, ob er oder sie Lust hätte, in die Sauna bzw. in den textilfreien Bereich mitzukommen, so verneinte dies wohl die befragte Person mitunter mit Verweis auf ihre Figur. Wer hat diesbezüglich nicht schon den Satz gehört: „Oje, da müsste ich zunächst einmal ins Fitness-Studio!”?(2) Das klingt doch ganz so, als seien die Geschlechtsteile nicht der eigentliche Hinderungsgrund für den Gang in den textilfreien Bereich, so dass Badebekleidung von Menschen, die ihre Figur für unansehnlich halten, genauso gut derart gestaltet sein könnte, dass sie alles bis auf die Geschlechtsteile bedeckte.

Das ist ein bedenkenswertes Phänomen menschlicher Verhaltensweisen: Werden die sogenannten Schamteile absichtlich (wenn auch unbewusst aus Gewohnheit) verschwiegen - eben aus Scham -, oder sind sie tatsächlich nicht das Problem? Wie das oben stehende Beispiel zeigt, kann es jedoch unter Heranziehung aller Erfahrung nur die Scham für seine Genitalien sein, die für die Hemmung, sich vollständig zu entkleiden, wirkmächtig ist.(3) Denn bei logischer Betrachtung müsste es ja im Gegenzug gesellschaftlich akzeptiert und normal sein, dass Menschen, die unserem Schönheitsideal entsprechen, unbekleidet in der Öffentlichkeit schwimmen, spazieren oder Sport treiben (dürfen).

Der Anhänger(4) der Freikörperkultur befindet sich folglich in einem schwerwiegenden Dilemma. Einerseits weiß er, dass ihm seitens der Gesellschaft in aller Regel Voyeurismus oder gar Exhibitionismus (zumindest unterschwellig) unterstellt wird bzw. er dies latent sich selbst vorwirft(5) und es ihm deshalb unangenehm ist, sich mitzuteilen - oder anders ausgedrückt: zu outen.(6) Zum anderen weiß er aber auch um seine wahren Beweggründe für seinen Wunsch, vor anderen unbekleidet zu sein. - Was könnte ein solcher Beweggrund sein, mutmaßlich zu wollen, unbekleidet in der Öffentlichkeit gesehen zu werden (wohlbemerkt - nicht: sich zu zeigen)? Die Gesellschaft formt aus diesem Sachverhalt jedoch gewöhnlich die Frage, ob denn ein solcher Wunsch etwas anderes sein könne, als sich öffentlich zeigen zu wollen. Dass diese Interpretation ein Vor- und Fehlurteil ist, ergibt sich aus der folgenden Grundüberzeugung, die ich hier postulieren möchte: Es gibt kein Körperteil, für das man sich schon allein, weil es vorhanden ist, schämen sollte, da ansonsten die eigene Menschlichkeit in Frage gestellt wird.(7) Diese Einsicht fordert aus sich selbst heraus den Umstand, gesehen werden zu wollen. Dabei geht es nicht um die bloße Präsentation, sondern um das Bedürfnis, sich als einen natürlichen Menschen zu erfahren. Dass derjenige, der sich für alle seine Körperteile nicht schämt, will, dass sie gesehen werden, ist der entscheidende Dreh- und Angelpunkt: Es ist etwas anderes, gesehen werden zu wollen, als sich zeigen zu wollen. Stellen wir uns, um uns diesen Unterschied vor Augen zu führen, vor, wir müssten irgendeine unserer Eigenarten oder eben ein Körperteil von uns aufgrund kultureller Zwänge in der Öffentlichkeit verbergen - beispielsweise unsere Bewegung und unsere Ohren. Weckt diese Vorstellung nicht den eigentlichen Drang zu wollen, dass diese Dinge gesehen werden? Und zwar deshalb, weil wir uns auch in der Öffentlichkeit, also auf gesellschaftlicher Ebene, als ganz normale Menschen verstanden wissen wollen? Bei unserem Beispiel mit der Bewegung und den Ohren ist dieser Wunsch jedenfalls genauso vorhanden, wie es bei den Geschlechtsteilen der Fall ist - allerdings mit dem Unterschied, dass der Wunsch des Gesehen-werden-Wollens im Falle der Bewegung und der Ohren in unserer Gesellschaft (anders als bei unseren Geschlechtsteilen) gar nicht notwendig ist bzw. erst gar nicht bewusst wird, da es ganz selbstverständlich ist, sich dafür nicht zu schämen.

Zu wollen, gesehen zu werden, ist vor dem Hintergrund dieser Erwägungen ein notwendiger und nachvollziehbarer Wunsch desjenigen, der die oben genannte Grundüberzeugung teilt, dass er oder sie sich nicht für das bloße Vorhandensein der Geschlechtsteile zu schämen braucht. Und um in der Öffentlichkeit nun die Erfahrung machen zu können, auch unbekleidet ein ganz normaler Mensch zu sein, kommt der Wunsch zu Tage, zu wollen, gesehen zu werden - was letztlich ein von der Gesellschaft künstlich erzeugter Wunsch ist. Die negative Annexion dieses Wunsches, nämlich sich zeigen wollen, halte ich deshalb für eine Perversion des zugrunde liegenden Sachverhalts und für eine ungerechtfertigte Unterdrückung eines natürlichen - wenngleich im Idealfall eines unbewussten oder zumindest nicht erforderlichen - Wunsches von Menschen, die sich nicht für sich selbst schämen wollen. Ich habe mir, um die Haltung solcher Menschen zu verdeutlichen, den Begriff des Ganzkörpermenschen als Synonym für den FKKler ersonnen, der die Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft nicht verstehen kann, bei Bedarf oder nach Lust und Laune einzelne oder alle Körperteile verhüllen und bei anderer Gelegenheit wieder enthüllen zu dürfen - nur nicht die Geschlechtsteile. Es ist durchaus eine Überlegung wert, sich zu fragen, weshalb man sich aller Kleidung bei Bedarf entledigen darf, bis auf jene, die die Geschlechtsteile verhüllen soll. Ist diese Verhüllung nicht unreflektierter Selbstzweck, wenn beispielsweise die (Bade )Hose kein Mittel zum Zweck des Badens, Sonnens, Spazierens oder Sporttreibens ist?

Zu wollen, gesehen zu werden, ist folglich ein natürlicher und vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen ein notwendiger Wunsch, sich für nichts an sich selbst schämen zu müssen und die Erfahrung machen zu dürfen, dass es völlig normal ist, einen Penis oder eine Vagina zu haben, wie es normal ist, eine Nase zu haben;(8) dass es völlig normal ist, dem herrschenden Schänheitsideal nicht entsprechen zu müssen, wie es normal ist, sein Gesicht, ganz gleich welchen Aussehens, nicht verstecken zu müssen. Es ist der Wunsch, zu spüren, unbekleidet nicht anders behandelt und akzeptiert zu werden wie bekleidet; der Wunsch schließlich, als (Ganzkörper-)Mensch behandelt zu werden, indem nichts an sich selbst, was wesentlich zu einem gehört, in Frage gestellt wird.(9)

Mit diesen Erwägungen erscheint die Bezeichnung Freikörperkultur (und nicht etwa Nacktkultur) für das Ausleben des oben Angeführten als sehr treffend. Schließlich will der FKKler bei dafür geeigneten Anlässen lediglich frei von Kleidung sein, ohne dabei als anstößig empfunden zu werden (oder im umgangssprachlichen Sinn als nackt oder entblößt). Und dass die Mitgliedschaft in einem FKK-Verein unzureichend für einen Menschen ist, der auch als (Ganzkörper-)Mensch akzeptiert werden will, zeigt das oben beschriebene Dilemma. Es schließt sich logisch geradezu aus, dass ein Mensch mit dieser Haltung von der Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, da ja durch die Ausschließung wiederum die Menschlichkeit des Menschen an sich in Frage gestellt wird. Mit diesem Sachverhalt bleibt nur übrig, die Freikörperkultur als ein gesamtgesellschaftliches Anliegen zu verstehen, dem sich eigentlich niemand wirklich entziehen kann - nicht anders, als das beim Umgang mit anderen Randgruppen wie Homosexuellen, Veganern, religiösen Minderheiten oder auch beim Umgang mit Tieren der Fall ist, wenn über die Ausweitung von deren Rechten in der Gesellschaft diskutiert wird. Denn der Wunsch, unbekleidet zu sein, ohne sich dafür verstecken zu müssen, ist meiner Ansicht nach ein grundlegendes Menschenrecht, das per se ein Thema der Gesellschaft darstellt und damit nicht tabuisiert werden sollte.

Man muss sich hier vielleicht bewusst machen, dass Rechte nur in einer heterogenen Gesellschaft Sinn machen. Denn kann man von Rechten beispielsweise von Schwulen reden, wenn ihnen dort, wo es niemand sieht, zugestanden wird, ihre Zuneigung zu zeigen, nicht aber in der Öffentlichkeit?(10) Oder wenn Veganer nur zu Hause ihre Überzeugung ausleben dürften, in der Öffentlichkeit aber keine Möglichkeiten dazu fänden? Weshalb aber kommt dieses Rechtsverständnis bei Anhängern der Freikörperkultur nicht zum Zuge? Hier gilt es als selbstverständlich, dass der Unbekleidete seine Lebenseinstellung nur unter Seinesgleichen ausleben soll ...

Mit etwas philosophischer Reflexion gilt es daher herauszustellen, dass der Anhänger der Freikörperkultur nicht nur für potentielle sexuell motivierte sitten- und gesetzeswidrige Handlungen in Sippenhaftung genommen wird, was wahrscheinlich der latente Grund für die Ausgrenzung oder auch Tabuisierung des völlig unbekleideten Menschen ist, sondern dass auch der einzelne Mensch bereits sich selbst innerhalb seiner eigenen Persönlichkeit bzw. Leiblichkeit aufgrund seiner Geschlechtsteile in Haft nimmt. Vergegenwärtigen wir uns zur Klärung dieses Gedankens die Annahme, dass unsere Konditionierung „Sex und Nacktsein” dieses Phänomen hervorgebracht hat und dazu führt, dass bloßes Unbekleidetsein als unsittlich erscheint. Es lässt sich daraus leicht ersehen, dass die Überfülle sexueller Leidenschaften, die selbst wiederum zu den eher verschwiegenen Wünschen zählen, mit dem bloßen Unbekleidetsein eng verwoben sind. Ein in der Öffentlichkeit nackter Mensch zeigt damit in einem gewissen Sinn das in der Gesellschaft Verschwiegene. Wenn man so will, erinnert dieser Umstand an den Sündenfall bei Adam und Eva, der seither als Erbsünde alle menschliche Existenz wesentlich bestimmt. Unsere Einsicht, die sich hieraus in unserem Zusammenhang gewinnen lässt, lautet: Du kannst nur sittenwidrig handeln, nicht aber sittenwidrig sein! Der Erfolg wäre die Menschlichkeit mit der niemand allein schon für seine leibliche Erscheinung in Frage gestellt, ausgelacht, als abnormal behandelt und schließlich diskriminiert werden würde. Nicht zuletzt sei angemerkt, dass ich noch nie einen solchen hässlichen Menschen gesehen habe, dass es gerechtfertigt erschiene, allen Menschen das Recht und die Freiheit auf Unbekleidetsein zu verwehren. Und selbst wenn es solche hässlichen Menschen gäbe, fiele dies in den Bereich der Toleranz und Achtung der Menschenwürde. Diese Erwägungen zeigen klar auf, dass der Wunsch, gesehen zu werden, eine natürliche Quelle hat und scharf von der pervertierten Unterstellung des Sich-Zeigen-Wollens abzugren-zen ist.

Zum Schluss bleibt noch die Auseinandersetzung mit dem Begriff „nackt”. Vorneweg sei gesagt, dass ich nichts gegen den Begriff als solchen habe, den zu verwerfen nicht mein Ziel ist. Ich möchte lediglich auf eine Ungereimtheit aufmerksam machen, die zu erkennen für den Umgang mit sich selbst und anderen sicherlich lohnend ist.

Wann ist man nackt? Gemäß der alltäglichen Erfahrung dann, wenn die Genitalien sichtbar sind. Warum aber muss ich mich als nackt bezeichnen lassen, sobald meine Genitalien sichtbar sind, bei verdecktem Geschlechtsteil und der sonstigen Sichtbarkeit meines Körpers aber nicht? Weshalb führt dieselbe Stofffläche, die mein Geschlechtsteil bedeckt, an anderer Stelle des Körpers zu dem Urteil, nackt zu sein? Diese Fragen lassen sich noch prekärer zuspitzen: Warum empfindet man jemanden, der wie auf dem eingangs vorgestellten Bild am gesamten Körper, außer an den Geschlechtsteilen, textil bedeckt ist, eher als nackt denn bekleidet? Mit diesen Fragen zeigt sich, dass das Empfinden, nackt zu sein, nichts mit der Größe der Textilfläche, die unseren Körper umgibt, zu tun hat und dass der Begriff des Nacktseins umgangssprachlich unreflektiert ist. Dies lässt sich auch gut an der Schlagzeile „Renzi kritisiert Verhüllung nackter Statuen”(11) aufweisen. Denn entweder müsste man sagen, dass Statuen immer nackt sind, wobei es keine Rolle spielt, ob sie einen unbekleideten Menschen abbilden oder einen bekleideten, oder sie sind es eben nicht - weil Statuen nun einmal in jedem Falle aus Steinblöcken gehauene Skulpturen sind. An diesem Beispiel offenbart sich einmal mehr die Beziehung der Menschen zu ihren Genitalien, wenn sogar Dinge als nackt bezeichnet bzw. empfunden werden, die es gar nicht sein können. Und das - es sei nochmals eindringlich hervorgehoben - nur deshalb, weil wie im Falle der Statuen Geschlechtsteile abgebildet sind.

Dieser Sprachgebrauch des Wortes nackt im zwischenmenschlich-gesellschaftlichen Gebrauch stellt den ganzen Begriff in Frage, weil das Nacktsein lediglich mit der Sichtbarkeit der Genitalien in Verbindung gebracht wird. Das allerdings ist nicht sehr einleuchtend, wenn man bedenkt, dass das Wort das Fehlen einer Sache, die jemandem oder einer Sache gewöhnlich zukommt, bezeichnet. So zum Beispiel das Fehlen des Schildes oder der Waffe eines Soldaten (nudo(12) corpore pugnare - ohne Schild/Waffe kämpfen [nicht: mit nacktem Körper kämpfen]), das Fehlen des Laubes eines Baumes (arbor nuda - Baum ohne Laub) oder wenn etwas oder jemand einer Sache beraubt ist (navis remigio nuda - Schiff ohne Ruder). Der Ausdruck homo nudus (etwa: nackter Mensch / ein Mensch ohne Kleidung) in unserem heutigen Sprachverständnis ist hingegen nicht überliefert. Das halte ich für ein Indiz der hier vertretenen These, dass es im Sinne der heutigen Verwendung des Begriffs den von Kleidung entblößten Menschen mit der Annahme, ihm fehle dadurch etwas Wesentliches, gar nicht gibt. Allenfalls denkbar wäre der Ausdruck homo nudus mit der Übersetzung „der einsame Mensch” oder „der Mensch ohne Gemeinschaft/Gesellschaft”, da der Zweckverband ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Menschen darstellt und ein Einzelgänger somit anders ausgedrückt auch als nackt bezeichnet werden könnte.

Dieser Sachverhalt führt uns nun vor Augen, dass sich der Mensch im eigentlichen Sinn nicht entblößßt, sobald seine Geschlechtsteile unverhüllt sind, sondern schlicht und einfach unbekleidet ist. Bei Kindern, die noch nicht durch ihre Erziehung und Sozialisation gelernt haben, ihre Genitalien als etwas Abnormales zu begreifen, für das man sich zu schämen habe, ist das sehr gut zu beobachten. Diese betrachten nackte Menschen und ggf. sich selbst tatsächlich lediglich als unbekleidete (Ganzkörper-)Menschen, ohne dass sich damit ein Problem für sie auftäte.(13) Im Übrigen ist das auch ein Zeichen verquerer Moral, wenn es gesellschaftlich akzeptiert wird, dass Kinder in der Öffentlichkeit nackt sein dürfen, Erwachsene aber nicht. Schließlich ist nicht einzusehen, weshalb das Unbekleidetsein bei Kindern etwas anderes sein soll als bei Erwachsenen. Den Übergang in die anerzogene Scham für einen Teil von sich selbst halte ich jedenfalls für eine folgenschwere psychische Belastung, indem das eigene Sein in Frage gestellt wird. Diese Infragestellung wiederum, die gemeinhin selbst nicht mehr hinterfragt wird - weil gesellschaftlich etabliert -, ist sicherlich eine unbewusste Ursache für selbst geschaffene gesellschaftliche Probleme wie Diskriminierungen und sexuell motivierte Straftaten.(14)

Wenn wir also - um den Gedankengang zusammenzufassen - nur an einer singulären freiliegenden Stelle unseres Körpers den Eindruck haben, nackt zu sein, widerspricht das zum einen dem Begriff nackt, demzufolge das Ganze, wenn ihm etwas fehlt, betroffen und beeinträchtigt ist. Eine solche Beeinträchtigung erfährt der Mensch jedoch nicht, wenn er beispielsweise gänzlich unbekleidet bei dafür geeigneten Bedingungen badet, Sport treibt, sich ausruht oder spaziert.(15) Zum anderen führt es uns die Scham des Menschen vor sich selbst vor Augen, die wohl auf die anerzogene Gleichung „Geschlechtsteile = sexuelle Begierden” zurückzuführen ist. Wobei ich hier gleich anschließen m#246;chte, dass eine Trennung von leiblicher Erscheinung und potentiellem Einsatz einzelner Körperteile für die gesunde Entwicklung des Selbstwertgefühls sicherlich förderlich wäre. Oder versteckt etwa irgendjemand seine Hände, weil sie grausame Dinge verrichten, oder seinen Mund, weil mit seiner Hilfe schlimme Dinge gesagt werden können? Besonders fragwürdig erscheint das zwanghafte Verdecken der Geschlechtsteile, weil der Mensch nun einmal ein sexuelles Lebewesen ist und nur deshalb existiert. Sich dafür zu schämen und zu verstecken ist nicht der richtige Weg.

Ein Angang wäre gemacht, wenn absurde Verhaltensweisen unter Nicht-FKKlern, wie zum Beispiel das kurze, aber eigentlich ungenierte Umziehen, das man öfters im Schwimmbad oder am Baggersee beobachten kann und das auch (immerhin) gesellschaftlich akzeptiert ist, ablegen würde. Denn wäre es nicht logischer und sinnvoller, die (Bade-)Hose für den Wassergang kurz auszuziehen und sie dann (wenn es denn sein muss) wieder trocken anzuziehen? Wäre es nicht logischer und sinnvoller, gleich den Bikini wegzulassen (bzw. weglassen zu dürfen), anstatt die zu drei Viertel sichtbare Brust mit einem hübschen Textilstück zu untermalen und die halb sichtbaren Pobacken noch hervorzuheben?(16) Wäre es nicht praktischer, wenn man sich im Badezimmer befindet und schon für die Dusche entkleidet ist, etwas Vergessenes einfach schnell draußen zu holen, auch wenn die Schwiegermutter zu Besuch ist? Wäre es nicht nachvollziehbarer und sinnvoller zu erkennen, dass Kleider Leute machen, keine aber Menschen?(17)

Freiburg, Februar 2016

 



(1) - Im Folgenden meide ich den Begriff nackt, den ich am Schluss des Essays eingehender beleuchten werde.

(2) - Das gleiche Phänomen ist bei einer solchen Vorstellung bei Kälte zu beobachten, welche als Grund gegen das gänzliche Unbekleidetsein angegeben wird.

(3) - Diese Erfahrung mache ich immer wieder. Unterhalte ich mich mit jemandem zum Thema und werden dabei die Beweggründe für die Hemmungen, vor anderen unbekleidet zu sein, obwohl es im Grunde kein Problem dabei geben dürfte, herausgearbeitet, so wird als Erstes stets die Leibesfülle angeführt. Erst nach langem und mühevollem Nachhaken kommt die Einsicht (bzw. das Geständnis) zutage: „Ja, gut, man muss ja nicht gleich seine Geschlechtsteile zeigen!”

(4) - Selbstverständlich beziehe ich bei der grammatikalischen männlichen Form alle Menschen, ob weiblich oder männlich, mit ein. Für die bessere Lesbarkeit bietet es sich jedoch an, nur die männliche Form zu verwenden.

(5) - Aufgrund der Erziehung und Sozialisation.

(6) - Dieses Outen meint schon allein die Bereitschaft oder Absicht, Mitglied in einem FKK-Verein zu werden, oder die Hemmung, eine Mitgliedschaft im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis bekanntzugeben.

(7) - Eine tiefer gehende Reflexion dieser These nehme ich in meinen anderen beiden Essays zur Freikörperkultur vor: Die Selbstentfremdung des Menschen am Beispiel des Bekleidungszwangs  sowie  Freiheit, Respekt, Toleranz - und FKK.

(8) - Nebenbei sei angemerkt, dass wir uns wohl auch für jeden beliebigen Körperteil schämen würden, zum Beispiel für die Ohren, wenn unsere Geschlechtsteile deren Form hätten.

(9) - Selbstverständlich ist der Wunsch nach Kleidung - zu welchem Zweck auch immer - genauso zu berücksichtigen und zu akzeptieren wie der gegenteilige Fall. Für beides gibt es gute Gründe. Allerdings muss der Wunsch nach Kleidung in unserer Gesellschaft nicht eigens gerechtfertigt werden.

(10) - Der sog. Schwulenparagraph (§ 175 StGB) wurde am 11. Juni 1994 abgeschafft. Zu hoffen ist, dass das Nacktsein in angemessenen Situationen und Orten auch einmal keine Ordnungswidrigkeit mehr darstellen wird.

(11) - Badische Zeitung, Donnerstag, 28.01.2016, S. 5.

(12) - Lat. nudus - nackt, entblößt, entkleidet.

(13) - Es wird auch oft die Meinung bemüht, gerade Kinder vor Unbekleideten schützen zu müssen. Es bleibt zur Widerlegung nur übrig, entgegnend zu fragen, wovor denn eigentlich geschützt werden soll. Vor einem Menschen? Vor sich selbst ...? Vielmehr ist unter anderem mit dieser Haltung unbekleideten Menschen gegenüber die hier aufgezeigte gesellschaftlich-kulturelle Fehlentwicklung zu erklären.

(14) - Dass Freikörperkultur nichts mit Sex oder sexueller Kriminalität zu tun hat, möchte ich hier nicht weiter ausführen. Dies wäre eine Thematik für ein weiteres Essay. Festzuhalten ist hier nur, dass Kleidung erfahrungsgemäß nicht vor sexuellen Übergriffen schützt. Schließlich sind sexuelle Belästigungen leider omnipräsent. Ohne es, wie gesagt, hier weiter zu thematisieren, gebe ich doch zu bedenken (und will es überhaupt einmal bewusst machen), dass es meines Wissens in Vereinen, in denen Unbekleidetsein etwas Normales ist, im Gegensatz zu Vereinen und überhaupt zu Lebensbereichen mit ausnahmsloser Textilkultur noch keine sexuell motivierten Übergriffe gegeben hat.

(15) - Vielmehr ist es anders herum: Bei den genannten Aktivitäten kann ein Kleidungsstück eher hinderlich als nützlich sein.

(16) - Jedenfalls ist nicht einzusehen, weshalb die meisten Menschen sich einbilden, durch diese Art Kleidung geschützter oder auch sittlicher zu sein.

(17) - Dies ist eine Abwandlung des Zitats von Othmar Cappelmann: Kleider machen Leute - aber sie machen nicht den Menschen.

Foto © Michael Otto

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